Man sollte alle Tage wenigstens
ein kleines Lied hören,
ein gutes Gedicht lesen,
ein treffliches Gemälde sehen
und, wenn es möglich zu machen wäre,
einige vernünftige Worte sprechen.

Johann Wolfgang von Goethe





Die Welt unser Traum

Nachts im Traum die Städt' und Leute,
Ungeheuer, Luftgebäude,
Alle, weißt du, alle steigen,
Aus der Seele dunklem Raum,
Sind dein Bild und Werk, dein eigen,
Sind dein Traum.

Geh am Tag durch Stadt und Gassen,
Schau in Wolken, in Gesichter,
Und du wirst verwundert fassen:
Sie sind dein, du bist ihr Dichter!
Alles, was vor deinen Sinnen
Hundertfältig lebt und gaukelt,
Ist ja dein, ist in dir drinnen,
Traum, den deine Seele schaukelt.

Durch dich selber ewig schreitend,
Bald beschränkend dich, bald weitend,
Bist du Redender und Hörer,
Bist du Schöpfer und Zerstörer.
Zauberkräfte, längst vergessne,
Spinnen heiligen Betrug,
und die Welt, die unermessne,
Lebt von deinem Atemzug.

Hermann Hesse




STEH ZU DIR
Kristiane Allert-Wybranientz

Lass Dich nicht verwirren
von dem Angebot der
Freuden, Strafen,
Versprechen und Möglichkeiten...

Lass Dich nicht aufhalten
durch
Verbote, Regeln und Normen...

Geh dort entlang,
wo Du meinst, es verantworten zu können.

Tritt ruhig einmal neben die Etikette
und
Du wirst sehen,
daß Du auch dort gut stehen kannst.




Über die Berge
Bertolt Brecht

Über die Berge
Fliegt der Mensch wie nichts
Groß sind seine Werke
Doch am Brot für alle, da gebrichts.
Menschenskind!
Daß nicht alle satt sind!

Über Kontinente
Spricht der Mensch von Haus zu Haus
Hunderttausend Hände
Strecken sich zueinander aus.
Menschenskind!
Wenn sie erst beisammen sind!




Nachricht
Wolf Biermann

Noch findet er statt
der Sonnenaufgang
Die dunkle Nacht, noch
wird sie veranstaltet

Erstaunlichl! Auch diese Früh fand ich mich wieder
am Leben. Erleichtert auch merkte ich auf den Atem
dicht neben mir: die Erde ist also noch immer bevölkert

Den Radiomeldungen über die neuesten Fortschritte
der kleineren Kriege kann ich beruhigt entnehmen:
Noch dauert an die Existenz der Gattung Mensch

Ausgerottet, lese ich in der Abendzeitung
hat sich heute noch nicht, was da alltäglich
nach Frieden schreit

Noch findet er statt
der Sonnenaufgang
Die dunkle Nacht, noch
wird sie veranstaltet




Lob der Faulheit
Gotthold Ephraim Lessing

Faulheit, jetzo will ich dir
auch ein kleines Loblied bringen.-
O..wie..sau..er wird es mir,
dich nach Würden zu besingen!
Doch ich will mein bestes tun,
nach der Arbeit ist gut ruhn.

Höchstes Gut! Wer dich nur hat,
dessen ungestörtes Leben--
Ach!..ich..gähn..ich..werde matt..
Nun..so..magst du..mirs vergeben,
dass ich dich nicht singen kann;
du verhinderst mich ja dran.




Über die Schwierigkeiten der Umerziehung
Hans Magnus Enzensberger

Einfach vortrefflich
all diese großen Pläne:
das Goldene Zeitalter
das Reich Gottes auf Erden
das Absterben des Staates.
Durchaus einleuchtend.

Wenn nur die Leute nicht wären!
Immer und überall stören die Leute.
Alles bringen sie durcheinander.

Wenn es um die Befreiung der Menschheit geht
laufen sie zum Friseur.
Statt begeistert hinter der Vorhut herzutippeln
sagen sie: Jetzt wär ein Bier gut.
Statt um die gerechte Sache
kämpfen sie mit Krampfadern und mit Masern.
Im entscheidenden Augenblick
suchen sie einen Briefkasten oder ein Bett.
Kurz bevor das Millenium anbricht
kochen sie Windeln.

An den Leuten scheitert eben alles.
Mit denen ist kein Staat zu machen.
Ein Sack Flöhe ist nichts dagegen.

Kleinbürgerliches Schwanken!
Konsum-Idioten!
Überreste der Vergangenheit!

Man kann sie doch nicht alle umbringen!
Man kann doch nicht den ganzen Tag auf sie einreden!
Ja wenn die Leute nicht wären
dann sähe die Sache schon anders aus.
Ja wenn die Leute nicht wären
dann gings ruckzuck.
Ja wenn die Leute nicht wären
ja dann!
(Dann möchte auch ich hier nicht weiter stören.)




Fragen eines lesenden Arbeiters
Bertholt Brecht

Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon -
Wer baute es so viele Male auf?
In welchen Häusern des goldstrahlenden Lima
wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend,
wo die Chinesische Mauer fertig war,
die Maurer?
Das große Rom Ist voll von Triumphbögen.
Wer errichtete sie?
Über wen Triumphierten die Cäsaren?
Hatte das vielbesungene Byzanz Nur Paläste für seine Bewohner?
Selbst in dem sagenhaften Atlantis
Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang,
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.

Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte,
als seine Flotte Untergegangen war.
Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg.
Wer Siegte außer ihm?
Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen?
So viele Berichte. So viele Fragen.




Dich
Erich Fried

Dich
dich sein lassen
ganz dich

Sehen
dass du nur du bist
wenn du alles bist
was du bist
das Zarte
und das Wilde
das was sich losreißen
und das was sich anschmiegen will

Wer nur die Hälfte liebt
der liebt dich nicht halb
sondern gar nicht
der will dich zurechtschneiden
amputieren
verstümmeln

Dich dich sein lassen
ob das schwer oder leicht ist?
Es kommt nicht darauf an mit wieviel
Vorbedacht und Verstand
sondern mit wieviel Liebe und mit wieviel
offener Sehnsucht nach allem-
nach allem
was du ist

Nach der Wärme
und nach der Kälte
nach der Güte
und nach dem Starrsinn
nach deinem Willen und Unwillen
nach jeder deiner Gebärden
nach deiner Ungebärdigkeit
Unstetigkeit
Stetigkeit

Dann
ist dieses
dich dich sein lassen
vielleicht
gar nicht so schwer




Gedichte lesen
Erich Fried

Wer
von einem Gedicht
seine Rettung erwartet
der sollte lieber
lernen
Gedichte zu lesen

Wer
von einem Gedicht
keine Rettung erwartet
der sollte lieber
lernen
Gedichte zu lesen




Einkauf
Hellmut von Cube

Sinn einzukaufen reist
Mürßl Marlino
quer durch die Zeit.
Jahre, jahrtausende Jahre
prüft er die Angebote,
bestaunt das Erdachte,
schüttelt am Ende den Kopf und
legt sich erleichtert
zutiefst in den
blühenden Unsinn.




Eigentlich keine Art
Erich Fried

Eigenartig
wie das Wort eigenartig
es fast als fremdartig hinstellt
eine eigene Art zu haben




Wacht auf!
Günter Eich

Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht!
Bleibt wach, weil das Entsetzliche näher kommt.
Auch zu dir kommt es, der weit entfernt wohnt von den Stätten, wo Blut vergossen wird,
auch zu dir und deinem Nachmittagsschlaf,
worin du ungern gestört wirst.
Wenn es heute nicht kommt, kommt es morgen,
aber sei gewiss.

"Oh, angenehmer Schlaf
auf den Kissen mit roten Blumen,
einem Weihnachtsgeschenk von Anita, woran sie drei Wochen gestickt hat,
oh, angenehmer Schlaf,
wenn der Braten fett war und das Gemüse zart.
Man denkt beim Einschlummern an die Wochenschau von gestern abend:
Osterlämmer, erwachende Natur, Eröffnung der Spielbank in Baden-Baden,
Cambridge siegte gegen Oxford mit zweieinhalb Längen,-
das genügt, das Gehirn zu beschäftigen.

Oh, dieses weiche Kissen, Daunen aus erster Wahl!
Auf ihm vergisst man das Ärgerliche der Welt,
jene Nachricht zum Beispiel:
Die wegen Abtreibung Angeklagte sagte zu ihrer Verteidigung:
die Frau von sieben Kindern, kam zu mir mit einem Säugling,
für den sie keine Windeln hatte und der
in Zeitungspapier gewickelt war.
Nun, das sind Angelegenheiten des Gerichts, nicht unsre.
Man kann dagegen nichts tun, wenn einer härter liegt als der andere,
Und was kommen mag, unsere Enkel mögen es ausfechten."

"Ah, du schläfst schon? Wache gut auf mein Freund!
Schon läuft der Strom in den Umzäunungen, und die Posten sind aufgestellt."

Nein, schlaft nicht, wenn die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid misstrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen!
Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!
Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!




Freudvoll und Leidvoll
Johann Wolfgang von Goethe

Freudvoll
und leidvoll,
gedankenvoll sein;
langen
und bangen
in schwebender Pein;
himmelhoch jauchzend,
zum Tode betrübt:
glücklich allein
ist die Seele, die liebt!




Du bist die Ruh
Friedrich Rückert

Du bist die Ruh,
Der Friede mild,
Die Sehnsucht du,
Und was sie stillt.

Ich weihe dir
Voll Lust und Schmerz
Zur Wohnung hier
Mein Aug und Herz.

Kehr ein bei mir,
Und schließe du
Still hinter dir
Die Pforten zu.

Treib andern Schmerz
Aus dieser Brust.
Voll sei dies Herz
Von deiner Lust.

Dies Augenzelt
Von deinem GLanz
Allein erhellt,
O füll es ganz.




Was es ist
Erich Fried

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe




Krieg und Friede
Friedrich von Logau

Die Welt hat Krieg geführt weit über zwantzig Jahr
Nunmehr soll Friede seyn / soll werden wie es war;
Sie hat gekriegt um das / O lachens-werthe That!
Daß sie / eh sie gekriegt / zuvor besessen hat.




Ein sehr kurzes Märchen
Michael Ende

Hänsel und Knödel die gingen in den Wald,
Nach längerem Getrödel rief Hänsel plötzlich: HALT!
Ihr alle kennt die Fabel, des Schicksals dunklen Lauf,
der Hänsel nahm die Gabel und aß den Knödel auf.




Allein
Hermann Hesse

Es führen über die Erde Straßen und Wege viel,
Aber alle haben dasselbe Ziel.
Du kannst reiten und fahren zu zwein und zu drein,
den letzten Schritt mußt du gehen allein.
Drum ist kein Können noch Wissen so gut,
als dass man alles Schwere alleine tut.